Die schlechte (unerwartete) Prognose

Eine Patientin mit Leberversagen kurz vorm Versterben; nicht mehr ansprechbar. Vergeblich suche ich nach einer Angehörigentelefonnummer. Ich wusste, dass sie minderjährige Kinder hat und eine erwachsene Tochter, von der ich endlich die Telefonnummer fand! Nach dem dritten Anruf hat sie endlich abgehoben. „Guten Tag, ich bin die betreuende Ärztin Ihrer Mutter. Gut, dass ich Sie erreiche, es geht um Ihre Mutter. Was ist Ihr letzter Kenntnisstand?“, fragte ich. Sie erzählt mir, dass sie mit ihrer Mama vorgestern gesprochen und erfahren habe, dass sie Leberzirrhose hat und auf dem Weg der Besserung sei. Alles klang so positiv – war es aber nicht, und das schon seit drei Wochen nicht. Wie sollte ich ihr das sagen?

Ich musste erst einmal schlucken, ehe ich ihr sagte: „Es tut mir leid, Ihnen das sagen zu müssen, aber ihre Mutter ist im Leberversagen. Sämtliche Therapie hat nicht angeschlagen, im Gegenteil, sie ist von Tag zu Tag schlechter geworden. Seit gestern reagiert sie kaum mehr und heute wird sie wahrscheinlich von uns gehen!“ Ein Schockzustand war zu erwarten.

Ich höre nur noch ein bitteres verzweifeltes Weinen am Telefon. Ich konnte sie verständlicherweise kaum trösten. Erst erfuhr sie den schlechten Zustand und dann noch, dass sie vermutlich heute versterben wird. Ihre Mutter habe ihr nie von der Dramatik erzählt. Und vor allem, dass es so schlecht um sie stand. Die Patientin war auf den Tod vorbereitet. Die Kinder jedoch nicht. Ein sehr trauriger Zustand. Sie schafft es noch, mit den anderen Geschwistern von der Mama Abschied zu nehmen. Heute ist die Mama zum Herrn zurückgekehrt … Der Fall hat mich heute sehr nachdenklich und traurig gemacht. Ob das die Mama zum Schutz ihrer Kinder gemacht hat? Wie wird es den Kindern jetzt gehen? Was denken sie über ihre Mama? Gut oder doch eher schlecht?

Ich persönlich finde es sehr schlimm, wenn man der Familie eine schlechte Diagnose nicht übermittelt. Wenn sie Bescheid wissen, können sich alle besser auf einen Abschied vorbereiten. Auch in unseren Kulturkreisen habe ich erlebt, dass den Älteren der Familie die wahre Diagnose verschwiegen wurde, um sie nicht zusätzlich traurig zu machen. Findet ihr nicht, dass jeder das Recht hat, die Wahrheit zu erfahren, auch wenn sie bitter sein kann?

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